Ich habe eine alte Nähmaschine. Und ich benutze sie gelegentlich sogar noch. Aber das ist nicht die eigentliche Geschichte. Die beginnt irgendwann 1914, als eine gerade 18 Jahre junge Frau die Singer Nähmaschine zu ihrem Geburtstag bekam.
Fortan tat das Gerät mit hölzernem Tisch und gusseisernem Unterbau Dienst bei der jungen Frau. Nach ihrer Heirat nahm sie den Namen an, unter dem ich sie kennen lernte, Frau Ummeschein. Sie wohnte mit ihrem Mann, Herrn Ummeschein, und ihrem Schwager und der Schwägerin, noch zwei Ummescheins, sowie meiner Großmutter samt Opa und meinem Vater sowie neun weiteren Mietparteien in Hannover-Limmer, Kirchhöfnerstr. 14.
Das Haus wurde 1934 gebaut. Meine Oma erzählte, sie hätten erst im schon fertigen Eckhaus gewohnt, bis die Nummer 14 bezugsfertig war. Man hatte damals auch die Wahl, ob man eine Dusche einbauen ließ (ohne Mietaufpreis) oder einen kupfernen Badeofen mit gusseiserner Wanne, wofür jeden Monat ein paar Reichsmark extra fällig waren. Oma entschied sich für die Dusche und blieb dabei, bis sie Ende 2003 starb.
Zurück zur Nähmaschine. Nachdem sie in und nach dem ersten Weltkrieg, damals „der Weltkrieg“ genannt, Kleider nähte und alte Sachen soweit flickte, dass sie weiter tragbar waren, bereitete sich die Welt auf den nächsten Weltkrieg vor. Der hätte auch die Nähmaschine um ein Haar erwischt. Eine alliierte Fliegerbombe landete direkt hinter dem Haus Nr. 14 im Hof, glücklicherweise ein Blindgänger. Die Brandbombe, die den Dachstuhl traf, wurde unter den vereinten Kräften der Bewohnerinnen erfolgreich bekämpft.
Außer dem Treffer im Dach blieb das Haus und damit auch die Bewohnerinnen und die Nähmaschine unversehrt. Die Familienväter hatten weniger Glück. Die Brüder Ummeschein und Opa Rennemann, der damals von seinem Opatum natürlich noch nichts wissen konnte, kamen aus dem zweiten Weltkrieg nicht zurück. Zurück blieb ein Haus voller Witwen und die Nähmaschine. Die diente sicher auch nach dem zweiten Krieg dazu, aus der Not neue Klamotten zu machen. Irgendwann wurde ihre Besitzerin zu alt, um sie noch zu benutzen, aber natürlich behielt die Maschine ihren Platz in der Wohnküche.
Anfang 1986 zog ich in das Haus ein, in dem meine Oma und die beiden Frau Ummescheins wohnten. Natürlich kannte ich die Nummer 14 schon seit ich denken konnte. Irgendwann, nachdem ich lesen gelernt hatte, stellte ich dann auch fest, dass Frau Ummeschein eigentlich „Unbescheiden“ hieß, aber in Limmer, wo man hannöversch spricht, sprach sich das eben als Frau Ummeschein. Also bleiben wir dabei.
Ich zog in den dritten Stock links, in dem vorher Artchen Schäder, eigentlich Arthur, gewohnt hatte. Artchen war einer der wenigen Herren, die den Krieg im Haus überstanden hatten, zusammen mit Onkel Heini, der in Parterre, gegenüber meiner Oma gewohnt hatte. Ansonsten wohnten außer mir und einer Studentin nur Witwen in Nummer 14.
Die Nähmaschine entdeckte ich, als ich für meine Nachbarin, Frau Ummeschein, eines Tages den Einkauf in die Wohnküche trug. Ich bewunderte das gut erhaltene Stück alter Technik natürlich gebührend und gab meiner Nachbarin den Rat, die Nähmaschine nicht wegzugeben, schließlich sei es mittlerweile selten, ein so gut gepflegtes und voll funktionsfähiges Gerät zu haben.
Ein paar Monate später wurde ich durch Lärm im Treppenhaus von meinem Computer weggerissen. Meine Großmutter versuchte lautstark, meine Nachbarin zu überreden, den Wohnungsschlüssel durch den Briefschlitz zu schieben, damit man die Tür aufmachen könnte. Dahinter lag nämlich meine Nachbarin, aufgrund eines Rheumaanfalls kaum in der Lage, sich zu bewegen. Während meine Oma weiter an den Schlüssel zu kommen versuchte, rief ich die Feuerwehr und einen Krankenwagen.
Als die Feuerwehr da war, war auch der Schlüssel da, die Tür entging also rabiateren Öffnungsversuchen. Dieser Tag war aber auch der Wendepunkt im Leben von Frau Ummeschein, denn sie kehrte nie wieder in ihre Wohnung zurück. Sie übersiedelte in ein Pflegeheim, mit gut 90 Jahren. Mir vermachte sie die Nähmaschine, als Dank für meine (geringe) Hilfe und weil sie der Meinung war, das gute Stück wäre bei mir in guten Händen.
Und in diesen Händen wird sie bleiben, bis ich irgendwann mit 90 jemanden finde, von dem ich glaube, dass er oder sie sie zu schätzen weiss. Jetzt geht das gute Stück auf die 100 zu und ich habe sie schon seit über zwanzig Jahren.
Das Einzige, was gelegentlich nötig ist, ist ein Tropfen Öl und etwas Möbelpolitur. Ein einziges Ersatzteil war in den zwanzig Jahren nötig, das Gummirädchen an der Unterfadenaufspulvorrichtung. Das Original zerbröselte, als ich das erste Mal versuchte, eine Unterfadenspule mit neuem Garn zu befüllen. Total hart und porös. Damals war das Gerät schon über siebzig Jahre als, aber der Singer-Laden in Hannover hatte noch ein passendes Ersatzteil.
Gestern habe ich festgestellt, dass die Unterfadenspulen anscheinend immer noch der Norm entsprechen, der auch meine Maschine folgt. Die Plastik-Unterfadenspulen, die man heutigentags zusammen mit den Garnspulen bekommt, passen in die Aufnahme der 95 Jahre alten Maschine. Respekt!